Köln, 20. Mai
Liebe Leserinnen und Leser,
was ist der Preis, für eine Karriere im Spitzensport? Oder besser gesagt: Wie viel müssen Athletinnen und Athleten teilweise auf sich nehmen, um es in ihrer Sportart nach ganz oben zu schaffen? Wie viel Druck ist erlaubt und ab wann werden die Grenzen des Erlaubten gesprengt? Auch um diese Fragen geht es dieser Tage am Rande des Prozesses gegen den norwegi- schen Leichtathletik-Trainer und Vater Gjert Ingebrigtsen. Einst formte er aus seinen Söhnen Henrik, Filip und Jakob ohne jegliches Vorwissen Spitzenathleten. Jakob ist inzwischen einer der besten Mittel- und Langstreckenläufer, die es in der Historie jemals gab. Doch es ist vor allem der 24-Jährige, der schwere Vorwürfe gegen seinen Vater und früheren Coach erhebt. Er und seine Brüder sowie die jüngere Schwester Ingrid seien in Kindheitstagen und jungem Erwachsenenalter dauerhafter psychischer und körperlicher Gewalt ausgesetzt gewesen.
„Alles wurde kontrolliert und für mich entschieden. Es gab ein enormes Maß an Manipulation. Als Teenager hatte ich das Gefühl, keinen freien Willen und kein Mitspracherecht zu haben“, sagt Jakob. „Die Dinge, die er tut und getan hat, sind eines Vaters nicht würdig“, führt er fort. Seinen Aussagen zu Grunde liegen sollen erlebter übermäßiger Leistungsdruck, Demütigungen sowie durch den Vater verübte Schläge und Tritte. Die Familie Ingebrigtsen galt einst als Vorzeigefamilie, die es gemeinsam schaffte, große sportliche Erfolge einzufahren. Doch was im Verborgenen passiert sein könnte, war der Öffentlichkeit unbekannt. In Norwegen wird der Prozess innerhalb der kommenden Tage zu Ende gehen. Es geht um Gerechtigkeit und eine rechtmäßige Strafe. Vor allem aber sollte der Fall dazu aufrufen, beim Konstrukt Leistungsport genauer hinzuschauen.
Alexander Dierke