Blog

Etappe auf dem Weg nach Rio

Bild: Getty Images

Etappe auf dem Weg nach Rio

Köln, 24. Juni 2016

Die 116. Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften sind Geschichte. Die Stimmung hätte besser kaum sein können, die Windbedingungen schon. Obwohl der Fokus bei vielen Athleten eher auf der Qualifikation für Olympia in Rio denn auf der Jagd nach DM-Medaillen lag, haben auch diese Wettkämpfe wieder Momente hervorgebracht, die ihren Platz in den Geschichtsbüchern finden werden.

„Ich habe mich körperlich nicht so gut gefühlt. Aber wir bereiten uns auf Olympia vor, deshalb sehe ich das nicht so eng“, sagte Diskuswerferin Julia Fischer, nachdem ihr, als Favoritin in den Wettkampf gestartet, am Ende hinter Nadine Müller nur der Silberrang geblieben war. Weitspringerin Alexandra Wester wollte sich vor ihrem letzten Versuch noch einmal motivieren und Platz eins angreifen. Nachher erklärte sie, was ihr dabei durch den Kopf gegangen war: „Komm, hier geht es um was. Es geht um Olympia.“ Nun gut. Die Jahresbeste Julia Fischer zeigte sich nicht besonders betrübt darüber, am Titel vorbei geworfen zu haben, da sie sich, wie sie ebenfalls zu Protokoll gab, aufgrund ihrer Vorleistungen recht sicher in Rio de Janeiro wähnt. Und Alexandra Wester dachte vor ihrem letzten Versuch sogar, nicht in Kassel, sondern schon am Zuckerhut zu sein. Spaß beiseite.

Die Olympischen Spiele sind das größte Sportereignis der Welt. Für die Sportler und auch für die Fans. Und so waren die 116. Deutschen Meisterschaften in Kassel eine Veranstaltung, bei der es – vor allem aufgrund der Regelung, dass die Erstplatzierten mit erfüllter Norm einen Startplatz für Olympia sicher haben – um mehr ging, als um Gold, Silber und Bronze. Die DM als Zwischenstation auf dem Weg zu Olympia. Doch weder Julia Fischer oder Alexandra Wester noch den anderen Athleten, die in der Analyse der Wettkämpfe ihre ganz persönlichen olympischen Ziele in den Vordergrund stellten, kann man vorwerfen, die Meisterschaften so betrachtet zu haben.

Eine logische Folge aus dieser auf Olympia fixierten Herangehensweise ist allerdings: Die DM wird in ihrer Bedeutung herabgestuft. Auch in Jahren, in denen eine EM oder eine WM die internationalen Top-Höhepunkte darstellen, geht es bei den nationalen Meisterschaften um Qualifikationen und um Formaufbau. Doch nie ist das so deutlich zu spüren, nie steht es so offensichtlich im Mittelpunkt wie in olympischen Jahren. Unattraktiver sind die 116. Deutschen Meisterschaften in Kassel deswegen nicht geworden. Sie waren nur auf eine andere, auf eine – positiv ausgedrückt – zusätzliche Art und Weise attraktiv.

Großes Lob für das Publikum

Was waren es also für Meisterschaften, diese 116. in Kassel? Es waren Meisterschaften, die alle nötigen Zutaten beinhalteten: viele Höhepunkte und gute Leistungen, derbe Enttäuschungen, ein paar Überraschungen und einen feierlichen Abschied. Auch den einen Moment, der noch lange im Gedächtnis der Zuschauer bleiben wird, hat es gegeben. In einigen Punkten waren es aber auch umstrittene Meisterschaften. Zu all dem später mehr. Denn vor allem waren es über das gesamte Wochenende stim­mungs­volle Meisterschaften. An zwei Tagen kamen insgesamt 28.700 Zuschauer ins Kasseler Auestadion.

In Nürnberg hatten im vergangenen Jahr an drei Tagen (inklusive Weitsprung-Prolog auf dem Hauptmarkt) 47.750 Zuschauer den Weg zu den Wettbewerben gefunden – in einem deutlich größeren Stadion mit kaum besetzten Oberrängen. Stimmungsmäßig waren die Meisterschaften in Kassel eine Steigerung zum Vorjahr. Das kam auch bei den Athleten so an, von Gesa Krause („Ich bin immer noch geflasht, wie die Zuschauer dabei waren“) über Cindy Roleder („Das macht extrem viel Spaß“) bis zu Thomas Röhler („Es war ein schönes Erlebnis, ein super Publikum und tolle Stimmung“) machten die Sportler das aufmerksame und toll unterstüt­zende Publikum für ihre guten Leistungen mitverantwortlich. Dennoch waren mit der Vergabe der DM nach Kassel in einem olympischen Jahr nicht alle Athleten glücklich. In der besonderen Situation, früh in der Saison Normen erreichen zu müssen, kritisierte unter anderem Hürdensprinterin Nadine Hildebrand die Vergabe der Meisterschaften ins Auestadion: „Die Deutschen Meisterschaften sind für uns ja ein großes Nominierungskriterium.

Da ist es ein bisschen schade, dass man sie in ein Stadion gegeben hat, wo man weiß, dass es mit dem Wind Probleme geben könnte.“ Tatsächlich spielte der Wind vor allem am Samstag eine große Rolle bei den Sprints: Vor- und Zwischenläufe über 100 Meter sowie über die kurzen Hürdenstrecken fanden durchgehend bei starkem und teilweise in Böen auftretendem Gegenwind statt. Auch auf den Weitsprung der Frauen hatten die Bedingungen Auswirkungen: Malaika Mihambo gewann den Titel in 6,72 Metern und sprang damit EM- und Olympianorm. Bei 2,5 Metern Rückenwind pro Sekunde geht diese Leistung allerdings nicht in die Bestenlisten ein. Offiziell hat Mihambo außer dem Titel nun nichts in der Hand. Am Mittwich nach den Meisterschaften kam dann aber die für Mihambo beruhigende Nachricht: Der DLV hat sie für die Europameisterschaften in Amsterdam nominiert.

Zwei absolute Highlights

Christin Hussong hätte es durchaus verdient gehabt, dass ihre Leistung am Ende des Wochenendes als der größte Moment der Meisterschaften in Erinnerung bleibt. Sie warf ihren Speer auf unglaubliche 66,41 Meter und gewann damit den mit Spannung erwarteten Wettbewerb – deutscher U23-Rekord, Rang 2 in der Weltjahresbestenliste und Olympiaqualifikation inklusive. Doch ein Mann stahl ihr kurz nach ihrem Traumversuch doch noch die Show: Robert Harting. Die große Frage lautete vor dem Wochenende: Wie stark ist der Diskus-Olympiasieger nach langer Verletzungspause und mit nur wenigen in diesem Jahr absolvierten Wettkämpfen? Die Antwort: So stark, um im letzten Versuch aus Platz 2 doch noch Rang 1 zu machen, mit einer Weite, die man noch aus seinen besten Zeiten kennt (68,04 m). Seine persönlichen „Armaged­don-Meisterschaften“, wie er die DM in Kassel im Vorfeld bezeichnet hatte, hat Harting gewonnen.

Das Ticket nach Rio ist ihm sicher. Sein Freudenausbruch nach dem letzten Versuch – als er wild über die Anlange tanzte und man sich im Nachhinein wundern muss, dass er sein Trikot nicht aus alter Gewohnheit zerriss – zeigte, wie viel Anspannung von dem Rückkehrer abfiel. Doch die Zuschauer im Auestadion konnten nicht nur bei spannenden Wettkämpfen mitfiebern, sondern sie erlebten auch, wie bitter enttäuschte Athleten ihr anvisiertes Ziel verfehlten. Besonders hart traf es Hochspringerin Ariane Friedrich, die sich beim Einspringen eine Knieverletzung zuzog, sich dann doch noch bis zu ihrer Saisonbestleistung von 1,84 Metern durchbeißen konnte, am Ende aber wegen immer stärkerer Schmerzen aufhören musste. Bei der Untersuchung am nächsten Tag bewahrheiteten sich ihre Befürchtungen: Der Traum von Rio ist geplatzt. Ein Knorpelschaden, der bereits operativ behoben wurde, lässt in nächster Zeit keine weiteren Starts zu.

Normen, Überraschungen und Absagen

Die Vorbereitung auf Olympia und die Jagd nach Normen spielten in Kassel für viele Athleten die größte Rolle. Fünf Sportler konnten bei der DM dann auch tatsächlich die vorgegebenen Richtwerte knacken. Hürdensprinter Matthias Bühler, der überraschend das Finale über 110 Meter Hürden gewann (13,44 sec), kann durch den Titelgewinn sogar schon sicher mit der Teilnahme in Rio planen, Lena Urbaniak mit neuer persönlicher Bestleistung von 18,02 Metern und eine im Vorlauf über 800 Meter fabelhaft aufgelegte Fabienne Kohlmann (2:00,49 min) sind zumindest in einer hervorragenden Ausgangsposition. 200-Meter-Sprinterin Nadine Gonska trumpfte zunächst im Vorlauf auf und erfüllte in 23,16 Sekunden die Norm, kratzte kurze Zeit später dann im Finale sogar an der 22-Sekunden-Marke und belohnte sich für ihren Lauf in 23,03 Sekunden mit der Bronzemedaille.

Ob sie in Rio an den Start gehen darf, ist ob der starken Konkurrenz durch Gina Lückenkemper, Lisa Mayer und Rebekka Haase allerdings noch fraglich. Ähnliches gilt für den Speerwerfer Julian Weber, der mit 83,79 Metern in Kassel die Norm knackte, die er zuvor mehrfach nur hauchdünn verpasst hatte. Thomas Röhler ist als Deutscher Meister gesetzt, Lars Hamann und Johannes Vetter melden ebenfalls Ansprüche an. Einige Athleten, die im Auestadion eigentlich die Norm hätten angreifen wollen, mussten kurzfristig noch absagen. Der bekannteste unter ihnen: Vorjahresmeister Raphael Holzdeppe, der am Samstag via Facebook verkündete, aufgrund anhaltender Probleme nicht am Stabhochsprung-Wettbewerb teilnehmen zu können. Den Traum von Olympia habe er aber auch weiterhin nicht begraben. Ein letztes Mal bei Deutschen Meisterschaften bekamen die Zuschauer Hammerwerferin Betty Heidler zu sehen. Standesgemäß verabschiedete sich die Frankfurterin mit ihrem elften Meistertitel und verkündete danach dem Publikum: „Ich komme wieder – dann aber als Zuschauerin.“

Gutes Gefühl

Die 116. Deutschen Meisterschaften waren ein Erfolg. Es waren faire Meisterschaften mit guten, aber nicht mit fragwürdig erscheinenden, astronomisch-starken Leistungen. Wettkämpfe, die im Rahmen der IAAF-Entscheidung, die russischen Leichtathleten aufgrund aktuell unüberwindbarer Doping-Problematiken auch weiterhin von internationalen Wettkämpfen auszuschließen, ein gutes Gefühl hinterließen.

Dem positiven Fazit steht der auf alle Disziplinen übergreifende Fokus auf die Olympischen Spiele nicht im Weg. „Wirklich zufrieden“ war auch DLV-Cheftrainer Idriss Gonschinska: „Wir hatten zwei unheimlich unterhaltsame und spannende Tage“, erklärte er. „Die Athleten werden sich freuen, in einiger Zeit wieder ins Auestadion zurückzukommen.“ Ein bisschen warten müssen werden die Sportler darauf jedoch noch, im nächsten Jahr findet der nationale Höhepunkt in Erfurt statt. Bis dahin wird die nacholympische Ruhe längst Einzug gehalten haben und Tokio 2020 wird in den Köpfen von Athleten, Zuschauern und Funktionären noch keine dominante Rolle spielen. Die Deutschen Meisterschaften werden dann wohl wieder mehr als eine Zwischenstation sein.

Daniel Becker

Daniel_Becker_DJV