Köln, 2. September 2016
Als große Favoritin galt im Vorfeld der Spiele die Britin Jessica Ennis-Hill. Der hat die junge Belgierin Nafissatou Thiam am Ende einen Strich durch die Rechnung gemacht und Gold gewonnen. War das auch für Sie eine Überraschung?
Ich habe damit gerechnet, dass Sie um die 6.600 Punkte erreichen wird. Dass es nachher über 6.800 Punkte wurden, ist natürlich ein echtes Wort. Ehrlich gesagt fand ich es aber schön, dass es mal eine Überraschung gab und eine jüngere Athletin eine gestandene Athletin ins Wanken gebracht hat. Auf Jessica Ennis-Hill bezogen muss man aber natürlich auch sagen, dass es alles andere als schlecht ist, Zweite bei Olympischen Spielen zu werden. Sie war die große Favoritin, aber Nafi Thiam war einfach „im Flow“. Man hat ihr angemerkt, dass Sie durch die jugendliche Leichtigkeit nichts zu verlieren hatte und einfach befreit auftrumpfen konnte. Am Ende hat es Jessica Ennis-Hill nicht geschafft, sie aus diesem „Flow“ herauszubekommen.
Nicht nur Nafissatou Thiam, auch die Viertplatzierte Laura Ikauniece-Admidina, Bronze-Gewinnerin Brianne Theisen-Eaton, die Sechstplatzierte Katarina Johnson-Thompson und einige weitere starke Siebenkämpferinnen haben noch einen kompletten Olympia-Zyklus vor sich. An welchen Stellschrauben müssen Sie noch drehen, um in Zukunft noch weiter vorne zu landen?
Eine konkrete Analyse mit meinem Trainer hatte ich bislang noch nicht, daher ist das schwer zu beantworten. Natürlich haben wir aber gesehen, dass wir uns im Sprungbereich noch weiter verbessern müssen. Es ist alles schon besser geworden, und ich denke, dass man die Entwicklung auch in den einzelnen Disziplinen gesehen hat. Trotzdem müssen sowohl die Sprünge als auch die 800 Meter noch besser werden. Ich war überall nah an der Konkurrenz dran und konnte mithalten. Jetzt müssen wir aber weiter ins Detail gehen und schauen, an welchen Schrauben wir noch drehen müssen, damit ich in Zukunft in einzelnen Disziplinen auch mit dominieren kann.
Immer wieder sind in der Vergangenheit Mehrkämpferinnen zu den Spezialdisziplinen abgewandert. Johnson-Thompson und Thiam hätte mit ihren Leistungen im Siebenkampf beide Hochsprung-Gold bei den Spezialisten gewonnen. Erwarten Sie, dass der Trend weitergeht?
Bei Nafi Thiam geht ja schon das Gerücht um, dass der Siebenkampf in Rio ihr letzter war und sie zum Hochsprung wechselt. Insgesamt denke ich, dass es ganz nett ist, wenn man immer mal wieder Ausflüge in die Einzeldisziplinen wagt, aber ich glaube, wer einmal beim Mehrkampf hängen geblieben ist, wird es schwer haben, in die Einzeldisziplinen reinzugehen. Man hat aber auch gesehen, dass viele von uns Spezialdisziplinen haben, von denen sie innerhalb des Mehrkampfes abhängig sind. Das beste Beispiel ist Katharina Johnson-Thompson, deren Erfolg vom Abschneiden bei den Sprungdisziplinen abhängt. Klappen diese Disziplinen mal nicht so gut, wie bei ihr in Rio der Weitsprung mit nur 6,52 Metern, reicht es eben nicht für ganz vorne. Bei mir ist das – Gott sei Dank oder eben auch nicht – anders, da ich eine große Balance habe. Nichts ist wirklich herausragend, aber auch nichts schlecht. Vereinzelt wird es Leute geben, die wechseln – und die hat es ja auch schon gegeben –, weil manche Disziplinen einfach zu schlecht sind. Das muss man so sagen.
Die Ergebnisse des DLV-Teams in Rio haben insgesamt zu Ernüchterung geführt, der Verband hat eine grundlegende Umstrukturierung der Abteilung Leistungssport angekündigt. Eine Reaktion, die Sie begrüßen?
Man muss da differenzieren. Ich war zwar in Amsterdam bei der EM nicht dabei, kenne aber den Medaillenspiegel und habe die Wettkämpfe vor dem Fernseher verfolgt. Man sollte eine Analyse nicht nur vom Abschneiden bei den Olympischen Spielen abhängig machen, denn man hat in Amsterdam sehr wohl gesehen, dass die deutsche Leichtathletik international konkurrenzfähig ist. Olympische Spiele sind aber eben nur ein Mal alle vier Jahre, und ich denke, dass für viele Athleten der Druck einfach extrem hoch war. Es ist aber menschlich, dass auch gestandene Athleten mal patzen und keine Medaille mit nach Hause nehmen. Das ist kein Weltuntergang, für jeden einzelnen Athleten aber Strafe genug. Wenn dann von Funktionären und von außerhalb noch auf einen draufgetreten wird, finde ich das nicht gut. Diese Dinge passieren einfach. Ich denke dennoch, dass es neue Strukturen geben muss, damit die Förderung in der Leichtathletik verbessert wird. Den Leistungsstand der Leichtathletik sollte man aber nicht nur aufgrund des Abschneidens bei Olympia bewerten.
Wann richten Sie den Blick wieder auf die nächsten Großereignisse, die WM in London 2017 und die Heim-EM 2018 in Berlin?
Wir haben in den letzten vier Jahren den Olympia-Zyklus voll durchgezogen und waren unheimlich viel unterwegs. Vor der Saison haben wir daher als Motivationsschub die Information bekommen, dass wir nun drei Monate frei haben. Es geht jetzt darum, das System runterzufahren und den Kopf freizubekommen. Ich fange erst Mitte November wieder an, wenn es in Trainingslager nach Monte Gordo geht. Dort werden die Grundlagen aufgebaut, und es wird entschieden, ob ich eine Hallensaison mache. Natürlich liegt der nächste Fokus auf der WM in London, und für mich persönlich ist dann die Heim-EM in Berlin die größtmögliche Motivation überhaupt. Da ist die Vorfreude schon sehr groß.
Interview: Daniel Becker